Ein Kommentar zu Kafkas intuitiver Bekanntschaft mit bürokratischer Macht
Von René Pikarski
Mit diesem Jahr ist Franz Kafka einhundert Jahre tot. Und wir alle dürfen unsere Argumente aus dem Zettelkasten kramen und seinem Werk erweisen, doch eigentlich ganz gut zu altern. Eine der bisher schönsten Überschriften fand Alexander Neubauer für seine Spiegel-Kolumne »Mit Lisa Paus ins Kafka-Jahr«. Er spricht darin von der Mehrbelastung durch überbordende Bürokratie, die das legislative Vorhaben der Familienministerin u. a. zur neuen Kindergrundsicherung dank Umstrukturierungen und Neuverordnungen zu verantworten habe. Der Artikel ist lesenswert, auch wenn ich meine, dass er drei wesentliche Aspekte übersieht, mit denen die Lektüre von Kafkas Texten schnell über die bloße Spiegelung einiger vermeintlicher Bürokratie-Booster unserer Gegenwart hinausweist.
Zunächst lässt Kafka seine Protagonisten selten direkt durch einzelne Verwaltungsvorschriften und Behördengänge leiden. Die Unmittelbarkeit des bürokratischen Leidens liegt bei ihm weniger im Kontakt mit legal legitimierten Ämtern und Regeln, sondern eher in der Erfahrung ihrer grundlosen Ausdehnung über das gesamte Leben: auf unsere Lebensformen, Lebenswelten, Lebensstile.
Außerdem trägt dieses Leid, wenn es überhaupt eines ist, nicht unbedingt oder unmittelbar den heute wirklichen körperlichen, psychischen und dabei zeitlichen wie materiellen Überforderungen durch bürokratische Exzesse Rechnung, mit denen längst nicht mehr nur die »Klient:innen«, sondern ebenso die Mitarbeitenden in Ämtern und im Management zu kämpfen haben.
Drittens darf bei Kafka sogar die dem Alltagsverstand oft unverständliche Bürokratie in gewisser Weise kompetent und rational bleiben. Gerade dann, wenn wir Kafkas Bürokratie-Realismus nicht mit einigen flüchtigen und konkreten bürokratischen Wucherungen unserer Gegenwart verschmelzen, können wir in den satirischen Überzeichnungen und seltsamen Extrapolationen diesem der Moderne andauernden Effekt bürokratischer Organisation auf die Schliche kommen: das widersprüchliche Phänomen, dass uns diese Organisation oft vollkommen irre, also nicht begründbar oder vernünftig erscheint und wir dennoch davon ausgehen (müssen), dass diese Organisation das Ergebnis einer hochprofessionellen und fortschreitend effizienten Rationalisierung unseres Intellekts und unserer vernünftigen Gesellschaft ist. Der »bürokratische Wahnsinn«, der uns so manches Mal entgegen klafft und ratlos macht, ist nur scheinbar irrational. Hier prallen nicht Vernunft und Unvernunft aufeinander, sondern zwei »Logiken«, deren zunehmende Unverträglichkeit dazu führt, dass eine inzwischen sämtliche Lebensbereiche erschließende Ordnungsmechanik unseren lebendigen Alltagsprozessen gegenüber als Stör- und Behinderungsmacht auftreten kann.
Oft können wir diese Störungen an diesem Vorfall oder jener Vorschrift, Handlung, Fehlleistung, Behördenkorruption oder Amtsgängelung festmachen und uns sehr darüber aufregen. Aber irgendwie lässt mich Kafka auch heute noch herrlich daran zweifeln, ob wir durch solch eine banale Skandalisierung des Einzelfalls der Bürokratie als normierender und normalisierender Macht über Leben und Tod, sowohl in Demokratien als auch in Autokratien wirklich näherkommen. Es ist das eine, auf die unvernünftigen und unkontrollierten Auswüchse der Bürokratie zu zeigen. Es ist etwas anderes, und für mich durchaus etwas Kafkaeskes, diese Auswüchse einigermaßen nüchtern als Teil der zunehmenden Rationalisierung unserer Verwaltungen selbst wahrzunehmen und damit auf unheimliche Weise einzusehen, wie ihre wachsende Undeutbarkeit und unsere Ohnmacht im Grunde zweckmäßige Phänomene dieser Rationalisierung sein könnten.
Manuel Clemens, ein guter Freund und Literaturwissenschaftler, fragte einmal, erinnernd an Camus‘ Sisyphos, ob wir uns K., das Bürokratieopfer aus Kafkas Roman Das Schloss, nicht sogar als einen glücklichen Menschen vorstellen können.[1] Worin besteht dieses Glück durch Verwaltung? K. ist ein eloquenter und aufgeschlossener Landvermesser, dem im Laufe der Handlung seine berufliche Qualifikation, Eigenverantwortung und Entscheidungskompetenz, also sein Können und die Spontanität echtmenschlichen Handelns, zunehmend von der geheimnisvollen, ihn und sein ganzes Leben irgendwie geschmeidig, fürsorglich und fast störungsfrei regelnden Verwaltung aus der Hand genommen werden. Deren Macht ist nicht abgesteckt und positioniert durch jeweilige Zuständigkeiten und Paragraphen. Sie ist intransparent, unbegrenzt und dabei enorm durchdringend, sie erreicht sogar K.s Schlafzimmer, seine ganz intimen Räume und Träume. Sie organisiert sein ganzes Leben. Im Auftreten aber bleibt sie zurückhaltend, distanziert, sehr anständig, vornehm und überaus wohlwollend. Mehrmals sieht K. sich gezwungen, seine merkwürdige Freizügigkeit und die neue, ungeahnte Leichtigkeit seines Seins festzustellen, weil ihm plötzlich alle Last von der Bürokratie genommen wird. K. erlebt sie nicht als restriktives Regime von Verboten und Anordnungen, sondern als fremdes und ihm unzugängliches besseres Wissen, mit dem er nichts anfangen kann. Es steht ihm eine nicht entschlüsselbare Vernunft und damit kein rein pathologischer, sondern höchstens ein kultureller Wahnsinn gegenüber. K. ist nicht ganz unwissend, sondern weiß, dass er nichts über seine Verwaltung weiß. Aber mit diesem Schlüsselmoment beginnt für ihn kein mutiger, mündigmachender und damit aufklärender Gang oder ein sokratisches Philosophieabenteuer ins Wissen. Alles, was sich dem merkwürdigen Glück des Nichtwissenden gegenüber entfaltet, ist ein bloß diffuses Unbehagen. Die Bürokratie lenkt so unsagbar und unsichtbar, dass die Marionetten ihre eigenen Fäden zwar kennen, aber kaum erkennen können – und es auch gar nicht sollen, geschweige denn wollen. Manchmal spürt K. aber, dass seine unmündige Autonomie, derer er sich erfreut, ausschließlich in der Negation und nur in der bürokratischen Befreiung von allerlei Pflichten und Verantwortungen besteht, aber er selbst gar kein eigenes, sinnstiftendes Ethos mehr an dieser nun freien Stelle ausbilden kann. Alles, was er künftig frei machen kann, darf und will, entgrenzt sich irgendwie in eine entropische Belanglosigkeit und kultivierte Wiederholung.
Er spürt auch eine andere Asymmetrie: Er, der Bürger, soll der Verwaltung blind vertrauen – was bleibt dem Nichtwissenden und Ohnmächtigen auch anderes übrig? Aber ihm selbst, dem Bürger, wird kein Vertrauen geschenkt. Denn das ist in der Matrix technischen, alles prüfenden, feststellenden, absichernden und dokumentierenden Verwaltungshandelns nicht vorgesehen. Und auch die Angelegenheiten, die er als Bürger hat und bei denen er sich Hilfe durch ein Amt verspricht, werden nicht als seine Probleme angenommen, sondern zunächst formatiert und in die Amtslogik und Amtssprache überführt. Die Behörde definiert überhaupt erst das Problem, welches der Bürger zu haben hat und ihm zu haben erlaubt ist. Der Bürger K. wird selbst bei der Formulierung seiner eigenen Angelegenheiten entmündigt und als Amateur seinen eigenen Lebensproblemen gegenübergestellt. Probleme, die via Aktenzeichen und Vorgangsnummer entpersonalisiert, dem Leben entführt und sogar seiner Dauer entledigt werden. Im Archiv hat das Problem keine Dauer, sondern ist unsterblich, im besten Fall im ewig gelösten, einsortierten und abgestempelten Zustand innerhalb der Verwaltungsmaschine.
Gerade Kafkas feine, wenig intellektuelle, dafür eher intuitive Ironie abseits der analytischen Dichotomie von Macht und Ohnmacht übersteigt unseren dagegen oft leider nur sehr vulgären Kontakt mit den Verwaltungsrationalitäten samt ihrer Nerven und Kraft raubenden Notwendigkeit. Manchmal bin ich neidisch auf K., weil er im böhmischen Schloss wenigstens noch eine Erfahrung mit der ihn einwebenden Bürokratie machen konnte. Ich aber scheitere in Berlin seit Monaten an der Terminvermittlung, um überhaupt zum Amt gehen und meinen Ausweis verlängern zu dürfen. In der Verwaltungslogik bin ich ab dem 22. Juni leider nicht mehr ich. Und diejenigen, von denen ich mir zwangsweise bei meiner eigenen Identifikation helfen lassen muss, sind nicht erreichbar. Da erscheint mir Kafkas fürsorgliche Bürokratie, die immer da ist und uns verschwiegen höflich den flauschigen Pyjama eines nicht aufklärbaren Lebens anzieht, manchmal wie eine gehässige utopische Fratze an uns Postmoderne.
Dem ist natürlich nicht so. Wir müssen uns K. nicht glücklich vorstellen. Er ist womöglich nur nicht in der Lage, gute Gründe für seine Sorgen und Skepsis gegenüber der ihn unentrinnbar entlastenden Bürokratie zu artikulieren. Die Entlastung, die sie verspricht und umsetzt, ist so offensichtlich, dass ihre seltsame Belastung unkritisch bleiben muss. Vielleicht kann K. nichts weiter tun als objektiv seine neue Freiheit festzustellen, weil die Irritation, dass hieran etwas nicht stimmen könnte, oft nur vage und diffus, eben grundlos evident bleiben muss. Für K. bleibt die Behörde des Schlosses, die ihn so sehr bestimmt, eine lächerliche Groteske. Die geheimnisvolle unendlich interessenlose und sich jeder Neugier öffnende Mystik böhmischer Grafschaften und Schlösser mit versteckten Türen und Winkeln oder einer allein spürbar reichhaltigen historischen Tiefe wird von Kafka umgestülpt in einen geheimnisvollen Verwaltungsapparat, der sich dem Logos des gesunden Menschenverstandes als strategischer Mythos gegenüberstellt. Die Ironie dieser Gegenüberstellung liegt darin, dass sich augenblicklich und unberechenbar jede allzumenschliche Banalität als göttliche Allmacht und umgekehrt erweisen und damit, ganz nebenbei, die Geschichtlichkeit und das Werden aller Orte und Figuren entzaubert und auf die Höhen dieses und jenes Aktenstapels reduziert werden kann. Was bleibt, ist eine merkwürdige Interferenz der Entschleunigung unseres Alltags: eine Romantik, die böhmische Schlösser offenbar mit der bürokratischen Organisation gemeinsam haben. Die Behörde ist die Gegenmacht zur sich beschleunigenden modernen Gesellschaft und bleibt in ihrem langatmigen Walten und in ihrer lang(e)weilenden Wirkung unbeirrbar. K. bleibt nur der Müßiggang und ein bitteres Lachen auf dem Hintergrund einer unentrinnbaren Verwaltungsmacht, die spätestens dann totale Züge annimmt, wenn sie sich zwar auf konkrete, abgesteckte Zuständigkeits- und Aufgabenfelder beruft, aber in Wirklichkeit umfassendere, eben das ganze Leben betreffende handlungsregulierende Effekte entfaltet.
Die große Leistung Kafkas besteht darin, diese soziologischen Brennpunkte der bürokratischen Macht zwischen der Welt, mit den Anderen und in mir selbst anzudenken, von denen Max Weber später vor allem die rein rationalen, Hannah Arendt die totalitären und Michel Foucault die grotesken Aspekte behandelten. Anders als Lisa Paus’ Familienministerium ist Das Schloss eine Schatzkiste, die uns fern der aufgeklärten und kritischen Analyse bürokratischer Macht und Machtmittel ein ganzes Arsenal intuitiver und kontraintuitiver Einsichten in ihre lebensgestaltenden Mechanismen bietet und zeigt, wie die Bürokratie die ihr von der Gesellschaft zugewiesenen Bereiche und Statute als Folge ihrer eigenen Rationalisierung ganz »regelmäßig«, also regelgerecht überschreitet.
Ich glaube, Kafkas Tod lädt uns weniger ein, etwas Kafkaeskes in den Gesetzesvorhaben unserer Kommissionen und Parlamente oder im Burnout der Bürokratieopfer zu suchen. Das empfinde ich als unangemessen. Genauso unangemessen, um damit einhundert Jahre Tod zu feiern. Warum feiern wir stattdessen nicht einhundert Jahre Geburt, nämlich den Anfang eines intuitiven Diskurses über bürokratische Macht, der mit dem Abbruch des Romanfragments nahezu zeitgleich auf die frühe kritische Soziologie der Bürokratie traf und dabei doch ungleich mehr über sie andeutet?
[1] Manuel Clemens: Wir können uns K. auch als einen glücklichen Menschen vorstellen. Agency in Kafkas Institutionenroman »Das Schloss«. In: Weimarer Beiträge, Nr. 66, 2020.