Ein „Mutmacher-Workshop“ für den eigenen Beitrag zu gesellschaftlichem Wandel
Es geht eben doch auch anders. Das war meine persönliche „lesson learned“ des Workshops Die Stadt als Labor der Hanns-Seidel-Stiftung, an dem ich zusammen mit Student*innen und Promovend*innen verschiedener Fachrichtungen Anfang Juni in Berlin teilnahm. Ebenso divers wie unsere eigenen Disziplinen waren die Stadtviertel und Projekte, die wir besuchten. Doch eines einte sie in aller Vielfalt: In einer Zeit, in der Solidarität in öffentlichen Diskursen oft als etwas erscheint, das vermeintlich „erschöpft“ ist, und in denen sich viele angesichts multipler Krisen fragen, ob eine „future worth living in“ nur noch Utopiecharakter hat, zeigen die Berliner Kieze, dass im Hier und Jetzt des urbanen Raumes mit Mut, Leidenschaft und Tatkraft Impulse gesetzt werden können für ein nicht-exkludierendes Miteinander und nachhaltige Lebenspraktiken. Ja mehr noch: diesen Impulsen scheint Potential innezuwohnen, weit über das Lokale hinaus zu wirken.
Das Haus der Statistik zeigt mitten in der Bundeshauptstadt am Alexanderplatz, dass gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung auch in großem Maßstab – es geht hier um die Renovierung riesiger Bestandsgebäude und 65.000 Quadratmeter Neubau – nicht „schöne Theorie“ bleiben muss, sondern durch entschlossene Kooperation zwischen Zivilgesellschaft und öffentlicher Hand praktisch umgesetzt werden kann. Bei Fertigstellung des Großprojektes werden hier neben dem „Rathaus der Zukunft“, dem neuen Bezirksrathaus für Berlin Mitte, rund 60 soziale, kulturelle und künstlerische Projekte einen Wirkungsraum finden, berichtet uns Maria Zaytzeva von der mit federführenden Stiftung ZUsammenKUNFT während wir staunend vor dem Plakat mit der Projektvisualisierung stehen. Im Rahmen von Pioniernutzungen ist das Haus der Statistik schon jetzt ein Ort der Innovation und Transformation, wenn z.B. gemeinsam aus geretteten Lebensmitteln gekocht oder im Teilbau „Haus der Materialisierung“ im Repair Café alten Dingen neues Leben „eingehaucht“, Altholz und anderes Material wiederverwertet oder mit Pilzen als Grundstoff für nachhaltige Produktgestaltung experimentiert wird.
Vom Haus der Statistik als Impulsgeber und Reallabor für eine ressourcenbewusste, „zirkuläre“ Gesellschaft als Wirtschaftsmodell der Zukunft ziehen wir – inhaltlich nahtlos anschließend – weiter, in den Osten der Stadt, zum MotionLab.Berlin in Treptow. Dort fasziniert mich Fridtjof Gustavs „story“, der noch während des Bachelor-Studiums angefangen hatte, seine Visionen in die Tat umzusetzen, und heute mit seinem Makerspace gerade auch Startups im Bereich nachhaltiger Entwicklung optimale Rahmenbedingungen für schnelles Prototyping bietet. Zwei der heute erfolgreichsten Hersteller von Lastenrädern, durch die in den Zentren unserer Großstädte die zunehmende Flut an Paketen möglichst klimaschonend zugestellt werden kann, haben einst im MotionLab an ihren zukunftsträchtigen Ideen getüftelt. Für einen überschaubaren Mitgliedsbeitrag eröffnet dieses kreativen Köpfen der Nachhaltigkeitswende Zugang zu Maschinen (wie z.B. 3D-Druckern) in Millionenwerten, kollaborativen Werkstätten, Workshops und Networkingplattformen, ganz nach dem Motto: Ressourcen teilen, voneinander lernen, gemeinsam den Wandel gestalten.
Während einige von uns sich in Gedanken schon selbst mit eigener Start-up-Idee Teil des MotionLab werden sehen, finden wir uns in Friedrichshain im Nirgendwo wieder. Auf der Projekthomepage liest sich die Selbstbeschreibung „Eine Bühne für Kunst & Kultur und ein Ort der Stadtnatur“ fast poetisch. Als wir dort, direkt gegenüber dem Berghain, einem der bekanntesten Technoclubs der Welt, ankommen, fühlt es sich nach der trubeligen Fahrt mit den Berliner Öffis unter der riesigen alten Platane unmittelbar an, wie in einer (Stadt-)Oase der Ruhe gelandet zu sein. Das Nirgendwo als gemeinwohlorientiertem Handeln verpflichtete gGmbH und Ort der Begegnung hat es sich zum Ziel gesetzt, um den historischen Ort eines Lokschuppens herum durch gemeinsame Aktivitäten mit Nachbar*innen den Erhalt der Artenvielfalt, eine nachhaltige Grünpflege und damit letzten Endes die Qualität der Stadtnatur insgesamt zu fördern. Im Sitzkreis unter der Platane lernen wir, dass jedes kleinste Stückchen begrünter Balkon dabei helfen kann, Biodiversität zu erhalten, und hören von Programmentwickler Marek Richter Ideen dazu, wie wir das bei uns Zuhause ganz konkret umsetzen können.
Mit diesen wertvollen Impulsen für den eigenen Beitrag dazu, unsere Städte grüner und artenfreundlicher zu gestalten, machen wir uns wieder auf den Weg, vorbei an einem beim Menschen eher unliebsamen, für Schmetterlinge aber extrem wertvollen Brennesselfeld mit Nirgendwo-Beschilderung „Bitte nicht abmähen!“. Der lange Weg zur nächsten Station, der gGmbH NIDISI, lohnt sich. Im wunderschönen alten Garten seines Großvaters in Berlin Zehlendorf begrüßt uns Co-Gründer Fabien Matthias mit kühlen Getränken. Vom griechischen Sinidisi für „Gewissen“ oder „Bewusstsein“ abgeleitet, verweist der Firmennahme auf die Überzeugung, dass wir Menschen „es besser machen“ können; dass die macht-/gewinnorientierten Systeme, wie sie unsere Gegenwart prägen, durch alternative Formen des Denkens und Wirtschaftens abgelöst werden müssen, um globale Herausforderungen zu bewältigen und eine lebenswerte Zukunft für alle Menschen zu schaffen. Dabei kann jede® Einzelne einen Unterschied machen. In diesem Spirit entwickelt NIDISI innovative Social-Business-Lösungen für soziale und ökologische Probleme in Nepal, wo sich Fabien schon seit dem Abitur engagiert. Mit seiner Hilfe nähern wir uns dem spannenden Begriff des Verantwortungseigentums an, das sicherstellt, dass Unternehmen nicht kurzfristiges Profit-Streben, sondern ihren jeweiligen Zweck priorisieren. Als neueste, diesem Anspruch folgende Projektidee stellt er uns die Entwicklung innovativer Menstruationsbinden aus Bananenfasern vor – gekoppelt an engagierte Aufklärungsarbeit, um kulturelle Tabus aufzubrechen, Empowerment und Gleichberechtigung nepalesischer Frauen zu stärken und Umweltverantwortung konkret umzusetzen. Bevor wir zu unserem (passend zum Workshop-Thema) veganen Abendessen aufbrechen, gibt uns Fabien mit auf den Weg, dass man, um ins Handeln zu kommen und über die persönliche Agency „einen Unterschied zu machen“, nicht immer alles bis ins letzte Detail verstanden haben muss: einfach (intuitiv) machen!
Diese Maxime leitet umstandslos über zu unserem letzten Programmpunkt am nächsten Morgen. Wir sind eingeladen bei SuperCoop, einem genossenschaftlich organisierten Bio-/Fair Trade-Supermarkt in Wedding, der den Genossenschaftsmitgliedern selbst gehört. Im kleinen, mit alten Möbeln ausgestatteten Marktcafé erklären uns die „Genossen“ Kersten und Marco, dass es diese Organisationsform ermöglicht, dass sich Großstädter*innen wieder mehr mit ihrer Ernährung und Nachbarschaft verbinden. Auf den Tischen liegen Flyer aus, die das Projekt bewerben mit „Wo Solidarität über den Tellerrand hinausreicht“, und wir erfahren, dass jedes Mitglied einen Genossenschaftsanteil in Höhe von 100 € zeichnet, auch Ratenzahlung möglich ist und erst kürzlich gemeinsam eine Soli-Mitgliedschaft beschlossen und eingeführt wurde für Menschen, die sonst aus finanziellen Gründen nicht Teil der Kooperative werden könnten. Dabei haben alle Mitglieder die Möglichkeit, mitzuentscheiden, etwa über Kriterien der Produktauswahl oder eben die erwähnte Umsetzung des Solidaritätsprinzips. Jede® hilft drei Stunden pro Monat in verschiedenen Arbeitsgruppen im Supermarkt mit, so dass Kosten und Preise gesenkt werden können – frei nach dem Motto: Alle leisten einen Beitrag und alle profitieren. Dabei sieht sich der Weddinger SuperCoop als Teil einer transnationalen Bewegung genossenschaftlicher Supermärkte mit tausenden von Mitgliedern unter anderem in New York, Paris und Brüssel, die sich über Grenzen hinweg gemeinsam für eine sozial gerechte Veränderung des Lebensmittelsystems einsetzen.
Aber warum war es mir eigentlich wichtig, Euch von all dem zu berichten? Der Workshop ist vorbei, fair enough. Und auch wenn er von der Hanns-Seidel-Stiftung seit mehreren Jahren mit unterschiedlicher Projektbesetzung neu aufgelegt wird, ist er jeweil nur Stipendiat*innen zugänglich. Gerade deshalb war es mir ein Anliegen, die inspirierenden Projekte, die ich und wir in Berlin kennenlernen durften, hier einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Denn sie zeigen: Solidarität und Nachhaltigkeit sind mehr als abstrakte „Worthülsen”, sie können von jeder und jedem von uns mit Leben gefüllt werden und so einen wertvollen Beitrag leisten zu positivem gesellschaftlichem Wandel.
Seminaridee, ‑konzipierung und ‑leitung: Thorsten Philipp, Präsidialstab der TU Berlin. Und Johanna Schabert, Managerin Kommunikation und Kommunale Netzwerke.